TEFILLA

Oratorium
zur Doppelstele “Bindung und Kreuzigung” von Igael Tumarkin

für
Solosopran, Solobass
Gemischter Chor
Bläserquintett (Flöte, Trompete, Englisch Horn, Fagott, Kontrafagott)
Streicherquintett (2 Violinen, 2 Celli, Kontrabass)
Schlagzeug
Orgel

Textzusammenstellung und Musik: Wolfgang Kleber

Uraufführung am 16.9.2001 in der Darmstädter Pauluskirche

 

Der Mitschnitt der Aufführung am 9.3.2003
ist auf CD erhältlich (15 Euro + Versandkosten). Bestellung.

 

Dieser Livemitschnitt steht auch auf YouTube zur Verfügung bei

https://youtu.be/2xf4Q7f3jtk


 

Weitere Aufführungen:
Sonntag, 2. März 2003, 17 Uhr, Dreikönigskirche Frankfurt am Main
Sonntag, 9. März 2003, Pauluskirche Darmstadt

Mittwoch, 12. Oktober 2005, Pauluskirche Darmstadt
Samstag, 15. Oktober 2005, St.Matthäus-Kirche im Kulturforum Berlin

Samstag, 8. Oktober 2022, Pauluskirche Darmstadt

 


EINFÜHRUNG

Vor der Pauluskirche in Darmstadt steht das eiserne Stelenpaar "Bindung und Kreuzigung", das der israelische Künstler Igael Tumarkin 1993 geschaffen hat. Die Geschichte von der "Bindung Isaaks" aus Gen.22 (- die Christen sprechen von der "Opferung Isaaks"-) hat für das Judentum dieselbe Bedeutung eines Grunddatums der Geschichte wie die Kreuzigung Jesu für die Christen. So stehen diese Stelen für Judentum und Christentum: nebeneinander - miteinander - unterschieden - gemeinsam. Beide sind nach Jerusalem ausgerichtet, der Stadt, die für beide Symbol eschatologischer Hoffnung ist; der Stadt, die für Juden die Gebetsrichtung ist: TEFILLA heißt "Gebet".
Die vom Komponisten zusammengestellten Texte bilden einen Chor aus Bibel, jüdischer Liturgie, anderen jüdischen Stimmen (z.B. Buber, Wiesel), philosophischen Passagen (Lessing, Goethe) und Gedichten aus Auschwitz. Sie lassen das Miteinander, Nebeneinander und schreckliche Gegeneinander von Juden und Christen in der gemeinsamen Geschichte erfassen, zeigen die Parallelität von Isaaks Bindung und Jesu Kreuzigung, aber auch von Jesu Kreuzigung und Mord an den Juden in Auschwitz: Katastrophe nicht nur für Israel, sondern auch für die Christen
Das Werk ist geschrieben für 2 Soli, Chor, Bläser, Streicher, Schlagzeug und Orgel. Auch die Stelen selbst kommen zum Klingen. Im großen wie in jedem Einzelschritt wird deutlich, wie sich der Komponist in jüdische Tradition, jüdischen Gottesdienst und jüdische Symbolik eingearbeitet hat und wie hochdifferenziert er seine Partitur durchgestaltet hat. Die Musik, die zwischen lyrischem Ton, expressiven Ton und Lesungscharakter changiert, spricht den Hörer unmittelbar an. Aber zugleich bringt sie viel Symbolisches zum Klingen, was man im Einzelnen nicht hört und was doch präsent ist. Hörbares und Unhörbares klingen zusammen. Das musikalische Material, aber auch die strukturellen Proportionen des Stückes werden von arithmetischen Reihen gebildet, die z.B. Proportionen der beiden Stelen nachbilden, die aber auch bestimmten "Personen" oder Begriffen zugeordnet werden können (Cherubim; Gott...). Höchst durchdacht werden bestimmte Taktmengen symbolisch eingesetzt (z.B. 101 als Zahlenwert des Engels Michael; 12 für die Zahl der Stämme Israels). Auch kompositorische Mittel haben Verweischarakter: Ein langsamer Chorkanon in der Sekunde steht für die Selbstbegrenzung Gottes im Sinn des jüdischen Zimzum.
Am Ende stellt dieses Werk nicht nur die Frage nach dem Verhältnis von Juden und Christen. Es stellt die Gottesfrage auf dem Hintergrund der Geschichte des Juden Jesus von Nazareth und auf dem Hintergrund der Geschichte von Juden und Christen. Der Gott Israels, für den und aus dem Jesus lebte, ist der HERR des Alls, der verherrlicht werden soll. Er ist aber, wie die Geschichte zeigt, zugleich der Gott, der den Menschen braucht, ja, der um die Liebe des Menschen bettelt (Simone Weil). Schwach ist dieser Gott in unserer Welt. Gerade religiöse Menschen wollen das nicht wahrhaben. Und vielleicht haben die Christen das neu zu lernen in einer Zeit überall entstehender Wohlfühlreligiosität. Nicht Gott ist die Antwort auf unsere Fragen. Merkwürdige Umkehr: Wir sind die Antwort. Wir haben die Frage zu suchen, auf die wir die Antwort sind.
Die Uraufführung des Oratoriums fand im September 2001 am Abend nach dem zweiten Tag von Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest, statt. Das Fest erinnert an das göttliche Gericht und daran, dass an diesem Tag die Welt erschaffen worden sei. An diesem Fest soll der Mensch seine Seele erneuern, indem er sich zu seinem Schöpfer hinwendet. Bestimmte auf dem Schofar geblasene Signale erklingen im Neujahrsgottesdienst. Sie spielen auch im Oratorium eine Rolle: Erneuerung, Umdenken ist angesagt.
Musikalisch und geistlich anspruchsvoll für die Ausführenden und für die Hörer ist dieses Werk. Wer es wach aufnimmt, wird verstört. Denn Tumarkins Stelen rosten...Geht alles immer so weiter?

Christa Reich